Tron und Wikipedia oder „Von Soziopathen im Internet“
Ich bin großer Fan der Wikipedia, ich nutze sie fast täglich, und bin oft überrascht von der Aktualität und Umfang. Insbesondere bei technischen Themen, aber auch in Wissenschaft, Politik und Geschichte bietet sie großartige Einstiege und Überblicke, und oft sogar Problemlösungen. Das alles wäre nicht möglich ohne die vielen aktiven Nutzer und insbesondere die admins, die sehr viel Lebenszeit dafür aufwenden, wie Gärtner in einem Park diesen von Müll zu säubern, mutwillige Zerstörungen zu reparieren, Schmierereien zu entfernen, Randalierer vor die Tür zu setzen und dabei die Wissenspflanzen zu hegen und päppeln, bis sie vielleicht zu stolzen Bäumen heranwachsen und die vielen Besucher erfreuen, die jeden Tag vorbeikommen, so wie ich.
Eigentlich ist es ein kleines Wunder, dass die Wikipedia so gut gedeiht und funktioniert, bei all den Konflikten, Meinungsverschiedenheiten und gegensätzlichen wirtschaftlichen Interessen in der Welt draußen, deren Abbild die Wikipedia ja ist. Die Wikipedia ist aber nicht nur Abbild, sie wirkt auch stark zurück in die Welt, und das langfristig. Ein Zeitungsartikel gerät regelmäßig nach Tagen bereits in Vergessenheit, ein Buch meist nach Jahren, aber ein Artikel in der Wikipedia lebt, verändert sich mit der Zeit und wird so in hundert Jahren noch immer uralte Teile enthalten. Die Wikipedia ist eine echte kulturelle Großtat, wie die Bibliothek von Alexandria. Was in der Wikipedia steht, hat Gewicht. Nun bin ich mitten in einen Konflikt hineingeraten, der mit der Wikipedia zusammenhägt und viele meiner Freunde betrifft. Es geht dabei um die Nennung des vollen Namens von Boris F. im Artikel über Tron in der Wikipedia. Tron war ein Hacker und starb 1998. Er beging wahrscheinlich Selbstmord, aber auch ein Mord wird sich niemals hundertprozentig auschließen lassen, das liegt in der Natur der Sache, denn es gibt ihn durchaus, den perfekten Mord. Aber wie gesagt, ich persönlich neige eher zu der Selbstmordthese. Auf jeden Fall ist das alles eine sehr tragische Geschichte. Ich kannte Tron, aber nicht sehr gut. Er kam mir schon recht sonderbar vor; nicht unsympathisch, aber irgendwie auf einer anderen Wellenlänge unterwegs als die meisten anderen Menschen die ich kenne, und ich kenne eine Menge seltsamer Leute. Auf jeden Fall hat sein Tod mich damals sehr betroffen gemacht, und auch ich habe mich gefragt, ob ich etwas hätte tun können, seinen viel zu frühen Tod zu verhindern. Wenn er sich umgebracht hat, hätte mehr Zuwendung geholfen? Wenn er umgebracht wurde, hätte man ihn von den falschen Leuten fernhalten können? Ich stand ihm nicht so nahe, als das ich mich allzu schuldig hätte fühlen müssen, aber wenn selbst ich mich schlecht gefühlt habe, wie muss es bei denen gewesen sein, die ihm näher standen? Andy zum Beispiel, aber vor allem natürlich seine Eltern. Das einzige Kind zu verlieren, wenn es gerade 26 Jahre alt geworden ist, gehört sicher zu dem schlimmsten, was Eltern erleben können. Ich selbst habe meinen Vater durch eine Gewalttat verloren und erinnere mich noch gut an die ersten verzweifelten Monate danach, aber um wie viel schlimmer muss es sein, was die Eltern durchgemacht haben, und leider noch immer durchmachen müssen. Seit neuestem rufen bei den Eltern Menschen an, die „Boris, Boris“ ins Telefon rufen oder sie wüst beschimpfen. Ich könnte kotzen. Leider müssen die Eltern ans Telefon gehen, sie haben ein Reisebüro und leben davon, ans Telefon zu gehen. Ihr Name ist sehr selten in Deutschland, so dass der Name völlig ausreicht, Adresse und Telefonnummer zu ermitteln. In die Anonymität abzutauchen würde ihre wirtschaftliche Existenz unmöglich machen. Nach dem Sohn auch die Existenz verlieren, das fehlte gerade noch. Und sie werden sicher nicht jünger. Ich kenne Leute, die nach dem Verlust eines engen Angehörigen in Monaten um zehn Jahre gealtert sind.Für die Leute, die bei den Eltern eines toten Sohnes anrufen, um sie zu beschimpfen, gibt es sogar einen wissenschaftlichen Namen: Soziopathen. Die Wikipedia nennt als Merkmale einer dissozialen Persönlichkeitsstörung:
- Unfähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen
- Unfähigkeit zur Verantwortungsübernahme, gleichzeitig eine klare Ablehnung und Missachtung sämtlicher sozialen Normen, Regeln und Verpflichtungen
- Unfähigkeit, längerfristige Beziehungen aufrechtzuerhalten, jedoch keine Probleme mit der Aufnahme frischer Beziehungen
- Geringe Frustrationstoleranz, Neigung zu aggressivem und gewalttätigem Verhalten
- Fehlendes Schuldbewusstsein
- Unfähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen.
Und: „Zusammenfassung: Die heutige Bedeutung des Begriffes Soziopath bezieht sich auf Personen, die nicht bzw. nur einschränkt dazu fähig sind, Mitleid zu empfinden, sich nur schwer in andere hineinversetzen können und die Folgen ihres Handelns nicht abwägen können.“
Vielleicht erkennt sich der eine oder andere Akteur ja wieder. Sicher sind nur die wenigsten Menschen echte Soziopathen, aber das Internet, die mutmaßliche Anonymität dort und die meist fehlenden Emotionssignale bei der Kommunikation im Internet scheinen soziopathisches Verhalten im Internet stark zu befördern, und umgekehrt die Nachteile, die Soziopathen im persönlichen Umgang mit anderen Menschen haben, zu verringern. Ein gutes Beispiel dafür ist der Umgang mit der Nennung von Trons vollem bürgerlichen Namen in der Wikipedia. Ganz egal, wer wo Recht hat, wenn die Eltern von Tron ein Problem mit der Nennung haben, dann kann man das nicht wegdiskutieren. Fakt ist: Die Eltern haben ein Problem damit. Es macht sie unglücklich. Das ist ein Fakt. Und jeder einzelne Tag an dem der Name dort steht zeigt ihnen, das die Menschen im Internet, „die Wikipedia“, sich einen Dreck darum schert, wie sie sich fühlen. Ich behaupte, den meisten Leuten auf dieser Welt oder auch nur in Deutschland ist es komplett egal, wie Boris F. mit vollem Namen heißt. Die Nennung des Namens in der Wikipedia hat auf dieser Welt wohl kaum jemanden nennenswert glücklich gemacht, außer vielleicht den Wikipedia Benutzer MA5, der am 25. Juni 2005 um 4:09 den vollen Namen in den Wikipedia-Artikel eingetragen. Er hat sich sicher gut gefühlt, diese Wissenlücke gestopft zu haben. Und war sicher stolz auf sich. Der Account des Benutzers MA5 wurde am 14. Dez. 2005 hat auf eigenen Wunsch gesperrt, das entspricht im Prinzip einer Löschung, da in der Wikipedia ein Löschen eines Accounts nicht möglich ist. MA5 möchte entweder anonym bleiben, oder er will nicht mehr mitmachen. Ich tippe auf ersteres, und das verstehe und respektiere ich. Nicht jeder fühlt sich wohl dabei, sich unter seinen realen Namen der Welt zu präsentieren, und insbesondere über das Internet, wo besonders viele Soziopathen aktiv sind. Ich bewundere den Mut und das Geschick der Leute, die im Internet mit ihrem realname unterwegs sind und gut damit klarkommen Wie soll das jetzt alles weitergehen? Hier sind vier Szenarien, die ich mir ausgemalt habe, alle halte ich nicht für umöglich: Szenario 1: Die Eltern gewinnen vor Gericht, die Wikipedia respektiert das Gesetz wie beim Copyright auch, und der Name kommt raus. Soziopathische Wikipedia Anhänger terrorisieren weiter die Eltern, und es gibt immer wieder Versuche von einzelnen, den Namen irgendwie reinzubringen. Es entstehen haufenweise Mirrors und Websites, die den Namen vorhalten. Anwälte der Eltern bringen den DMCA oder irgendein anderes amerikanisches Gesetz ins Spiel und zwingen Google, Seiten mit Suchanfragen mit dem Nachnamen drin nicht anzuzeigen, aber es werden technische Umgehungsmaßnahmen gefunden. Von Spenden aus dem Solidaritsfond für die Eltern werden massenweise take-down notices an provider verschickt, mit Teilerfolgen, aber der Name bleibt im Netz. Viele Leute verwenden viel Zeit damit, den Krieg jahrelang weiterzuführen. Hier dann flammen Auseindersetzungen auf. Bürgerkrieg in und um das Internet. Szenario 2: Die Eltern verlieren vor Gericht. Der Name bleibt in der Wikipedia. Die Eltern klagen weiter. Sie werden verlieren erneut. Sie geben irgendwann auf, machen ihr Geschäft zu, ziehen weg, ändern ihren Namen. Szenario 3: Die Eltern gewinnen vor Gericht. Wikipedia ignoriert die Entscheidung. Der deutsche Wikimedia-Verein wird aufgelöst, das Vereinsvermögen wird als Ordnungsgeld vom Staat einbehalten. Die deutsche Wikipedia-Szene spaltet sich. In den USA bleibt der Name zunächst drin. Irgendwann gerät aber ein Gerichtbeschluß in den USA in die Hände einer übereifrigen Behörde, die das Datacenter in Florida stürmt und die Server beschlagnahmt und erst mal wochenlang irgendwo einlagert. Überall auf der Welt schießen Wikipedia-Mirrors aus dem Boden, aber nicht überall klappt es, die user accounts und andere Metadaten zu übernehmen. Die wikipedia community fragmentiert sich, die Arbeit kommt für Wochen zum erliegen. Irgendwann laufen die Server wieder, ohne den Name, alles normalisiert sich langsam, aber nicht alle Wikipedianer machen weiter. Die Eltern allerdings sind längst untergetaucht, weil sie die Anfeindungen der Internet-Soziopathen nicht länger ertragen haben. Szenario 4: Die Wikipedia nimmt den Namen noch vor der Verhandlung raus. Die Eltern ziehen ihren Antrag zurück. Es gibt keine Gerichtsentscheidung. Die admins passen auf, das der Name draußen bleibt, so wie sie jetzt gerade aufpassen, dass er drinbleibt. Szenario 1 halte ich für das wahrscheinlichste, Szenario 4 würde ich mir wünschen. Für alle. P.S.: Es gibt auch noch ein echtes Horrorszenario: Jemand verbreitet die Realnamen, Adressen und Telefonnummern der Wikipedianer, die dafür gesorgt haben, das der Name reingekommen ist. Eine Gruppe von soziopathischen Spinnern terrorisiert diese Wikipedianer. Dabei treffen sie zwangläufig auch Verwandte, Mitbewohner und andere Unbeteiligte, die dadurch belästigt werden. Was dann folgen würde, möchte ich mir lieber nicht ausmalen.