Braucht die Welt die Piratenpartei oder die Ankunft der zweiten postmateriellen Internationale


Materielle und postmaterielle Bedürfnisbefriedigung

Wir leben in einer Welt des stetigen und sich selbst beschleunigenden Wandels, der vor allem durch technisch-wissenschaftlichen Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum geprägt ist.

Wem das zu banal klingt, der darf stattdessen den Satz “Kontinuierliche soziotechnische Progression und ökonomische Expansion durch tachogene multisektorale Transformation zur Wissens- und Informationsgesellschaft in globalem Maßstab” lesen.

Die Industrialisierung und Demokratisierung hat zu einem Ausmaß an wirtschaftlichem Wohlstand und Stabilität in den westlichen Gesellschaften geführt, dass materielle Bedürfnisse im Großen und Ganzen als befriedigt angesehen werden müssten. Der Preis für weitere Verbesserungen im Bereich des Materiellen wird an vielen Stellen untragbar und geht stark zu Lasten immaterieller Bedürfnisse.

Vernünftige Politiker, die es in allen Parteien gibt, haben längst die Einsicht gewonnen, dass die Politik die Menschen materiell niemals zufrieden stellen können wird, wenn zugleich von der Wirtschaft Milliarden aufgewendet werden, um neue materielle Bedürfnisse zu wecken. Eine hinreichend grosse Schere zwischen Arm und Reich ist ebenfalls Voraussetzung für materielle Unzufriedenheit, die ein wichtiger Motivator für das Streben nach materiellem Wachstum ist. 

Zu den materiellen Bedürfnissen zählen:

  • physiologische Bedürfnisse aller Art
  • wirtschaftliche Stabilität
  • Wirtschaftswachstum
  • Preisstabilität
  • Ruhe und Ordnung in Staat und Gesellschaft
  • leistungsstarke Streitkräfte, also das Bedürfnis nach (physischer) Sicherheit.

Zu den postmateriellen Bedürfnissen zählen vor allem die Bereiche des Sozialen und der Selbstverwirklichung, insbesondere:

  • geistige Bedürfnisse
  • schöpferische Bedürfnisse
  • ästhetische Bedürfnisse
  • kontemplative Bedürfnisse (Ruhe, Beschaulichkeit, geistige Konzentration)
  • Zugehörigkeitsgefühl
  • soziale Anerkennung
  • Mitsprache in Staat und Gesellschaft
  • Meinungsfreiheit
  • Informationsfreiheit
  • Informationsschutz
  • Naturschutz

Sieht man genau hin, dann beruht die Unzufriedenheit in weiten Teilen unserer Gesellschaft in erster Linie auf der mangelnden Befriedigung von postmateriellen Bedürfnissen wie sozialem Zugehörigkeitsgefühl, Mitsprache, Selbstverwirklichung und sozialer Anerkennung.

Die materielle Unzufriedenheit unter sozial Benachteiligten beruht weniger auf physisch-existenzieller Not als vielmehr auf mangelhafter Verteilungsgerechtigkeit, die ebenfalls ein postmaterielles Bedürfnis ist. Materielle Unzufriedenheit bei den Wohlhabenderen ist primär ein Problem fehlgeleiteter Willensbildung. Weiterhin suggeriert die Werbung den Menschen, dass postmaterielle Unzufriedenheit durch materiellen Konsum kompensiert werden kann. Das ist zwar krank, aber es funktioniert, wie man an erfolgreichen Kampagnen sehen kann, die meist nicht den Nutzen von Produkten in den Vordergrund stellen, sondern die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen mit einem erstrebenswerten Lebensstil versprechen, wenn ein bestimmtes Produkt konsumiert wird.

UPDATE: Im SPON formuliert Phillip Schnee in seinem Artikel über Edward Bernays das folgendermassen: "Mit seiner Arbeit legte er den Grundstein für eine Konsumkultur, in der Menschen kaufen, was sie nicht wollen und Bedürfnisse befriedigen, die sich nicht haben. Bis dahin pries Werbung die Funktionalität und die Haltbarkeit von Produkten an. Bernays aber setzte auf die Gefühle, nicht den Verstand."

Vorherrschaft der Materialisten

Die etablierten Parteien mit Ausnahme der Grünen haben all dies leider noch immer nicht verstanden und betreiben vor allem eine Politik, die die materielle Bedürfnisbefriedung in den Vordergrund stellt und dort Gegensätze schürt, vermeintliche Bedrohungen thematisiert, sowie das falsche Versprechen macht, dass mit weiter zunehmender Befriedigung materieller Bedürfnisse mehr Glück und Zufriedenheit in der Gesellschaft verbunden sind.

Diese Fixierung auf das Materielle ist derzeit nicht nur das größte Hindernis für eine allgemeinere Verbesserung bei den postmateriellen Bedürfnissen, sie beeinträchtigt und verschlechtert in vielen Fällen die Bedürfnisse der Menschen in unerträglicher Weise, etwa im Bereich der Umweltzerstörung oder der Einschränkungen persönlichen Entfaltung.

Obwohl die Kriminalitätsrate historische Tiefstände erreicht, werden für ein Mehr an Sicherheit Freiheitsrechte eingeschränkt, deutsche Gefängnisse füllen sich kaum bemerkt mit immer mehr Strafgefangenen, und der Preis für wirtschaftliches Wachstum wird stetig höher. Immer mehr Menschen werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, die natürlichen Lebensgrundlagen werden weiterhin zerstört, und die Mitsprache in Staat und Gesellschaft wird von immer wenigeren wahrgenommen. Die großen politische Parteien etwa verlieren zusammen über 35.000 Mitglieder pro Jahr, die christlichen Kirchen jedes Jahr rund 200.000 Mitglieder. Gerade das Versagen der Kirchen, deren Geschäftsmodell ja auf die Befriedigung immaterieller Bedürfnisse ausgerichtet ist, zeigt das Ausmaß des Problems.

Zum Umfang und zur Entwicklung der vielbeschworenen Zivilgesellschaft in Deutschland gibt es erstaunlicherweise kaum Zahlenmaterial, erste Projekte dazu sind gerade erst angelaufen.

Der Grund für die Dominanz der Materialisten in der Parteienlandschaft liegt im Übrigen darin begründet, dass die Zahl der Materialisten in der Bevölkerung überwiegt, und der Anteil der Postmaterialisten nach einem Hoch in den 80er Jahren als Folge der deutschen Einheit der Anteil in den 90er Jahren zwischenzeitlich zurückgegangen ist.

In den letzten zehn Jahren dagegen hat auch in Ostdeutschland die Zahl der Postmaterialisten stark zugenommen und fast westdeutsche Verhältnisse erreicht. Von rund 30% im Jahre 2006 dürften mittlerweile fast 50% der Deutschen eher dem postmaterialistischen Lager zuzuordnen sein. Dass die grossen Parteien diese Entwicklung verschlafen haben, könnte auch damit zusammenhängen, dass die Finanzkrise in der Politik den Materialismus in den Vordergrund gedrängt hat.

Die Postmaterialisten: Grüne und Piraten

Mit den Grünen trat in den 1980er Jahren in Deutschland erstmal eine Partei in die politische Landschaft, deren Ziele weitgehend im Bereich postmaterieller Bedürfnisse liegen, und viele ihrer Ziele haben Eingang in die politische Landschaft gefunden, aber trotz aller Fortschritte haben die Grünen nur wenige ihrer Ziele in ausreichendem Maße erreicht. Schuld daran ist vermutlich auch, dass die in Materialismus und Dialektik verhafteten Linken in der Partei bereitwillig auf das Spiel der etablierten Kräfte eingestiegen sind, künstliche Gegensätze zwischen materiellen und postmateriellen Bedürfnissen aufzubauen und gegeneinander auszuspielen. Fünf Mark pro Liter Benzin lässt grüßen, und die neue Diskussion um die Atomkraft zeigt, wie die alten Kräfte einschließlich der Grünen nur allzu bereit sind, über den optimalen Verlauf von Holzwegen zu streiten.

Die Piratenpartei gilt derzeit als zweite überwiegend postmaterialistische Partei, die sich vor allem aus dem Bedürfnis nach geistiger und schöpferischer Freiheit, Meinungsfreiheit und Mitsprache der jungen Generation in Staat und Gesellschaft speist. Die Piraten sind sogar derart postmaterialistisch, dass man wohl treffender den Begriff "Immaterialisten" für die Piratenpartei nehmen sollte.

Auch die Grünen treten nach wie vor für viele dieser Rechte ein, und aktuell lautet der Schlüsselsatz im Grundsatzprogramm der Grünen: “Wir verbinden Ökologie, Selbstbestimmung, erweiterte Gerechtigkeit und lebendige Demokratie. Mit gleicher Intensität treten wir ein für Gewaltfreiheit und Menschenrechte.”

Das ist alles schön und gut, und lässt sich in der Theorie auch problemlos mit den Forderungen der Piratenpartei in Einklang bringen, doch mit der Fokussierung auf den Umweltschutz stehen bei den Grünen andere postmaterialistische Werte im Vordergrund als bei den Piraten, und die Grünen haben sich auch den Ruf eingehandelt, eher technologiefeindlich zu sein, auch wenn das mittlerweile nicht mehr wirklich der Fall ist. Für eine Rolle als Protagonisten der Informationsgesellschaft jedenfalls taugen die Grünen eher nicht, da würden die Menschen der CDU und FDP mehr zutrauen, wenn diese Parteien sich nicht so tief im Lager der Materialisten eingegraben hätten.

Wenn die alten Parteien weiter dort verharren werden, und alle Anzeichen sprechen dafür, wird die Piratenpartei in kürzester Zeit die Grünen als führende Kraft des Postmaterialismus in Deutschland ablösen. Das Wählerpotential der Piratenpartei in Deutschland liegt mittelfristig bei 20-30%, und wenn die alten Parteien sich nicht wandeln, wovon aber nicht auszugehen ist, würden Grüne und Piraten in einzelnen Bundesländern in nicht allzu ferner Zukunft sogar Regierungsmehrheiten stellen können.

Das wahrscheinlichste Szenario dürfte aber sein, dass die Altparteien sich verstärkt den postmaterialistischen Themen zuwenden werden, was ohne das Erstarken der Piraten erst einmal nicht so schnell von statten gehen wird, und die Altparteien haben das kulturelle Problem, dass sie für junge, kompetente Immaterialisten unattraktiv sind und die innerparteiliche Mehrheit der Materialisten den Wandel leicht verhindern könnte.

Wenn nach der Bundestagswahl die SPD geschlagen in die Opposition gehen würde, bestünden dort am ehesten die Chancen für einen innerparteilichen Wandel hin zum Immaterialismus. Es fragt sich nur, ob die Kraft und die Kompetenz dafür da ist.

Wandel zur Wissens- und Informationsgesellschaft

Was die Grünen neben ihrer linken Tradition auch am durchschlagenden Erfolg hindert ist, dass sie leider wie alle anderen Parteien das Ausmaß der langfristigen Veränderungen nicht erkannt haben oder nicht wahrhaben wollen, die die Informationsgesellschaft mit sich bringt. Politiker lesen zu wenig Science-Fiction-Romane. Sie lesen vermutlich überhaupt zu wenig, weil sie so viel reden müssen.

Dass die Veränderungen so unterschätzt werden, liegt auch am vergleichsweise unspektakulären Verlauf dieses unaufhaltsamen globalen Wandels. Eruptive Umbrüche, Sprengungen oder Zusammenbrüche sind selten zu verzeichnen, und bestehende Strukturen, Institutionen oder Akteure werden nur allmählich ausgetauscht.

Der Wandel verläuft aber nicht konfliktfrei oder harmonisch, er ist geprägt durch hochintensiven Wettbewerb und ständigen Innovationsdruck und ist von scharfen Machtauseinandersetzungen und Domänenkämpfen durchsetzt, wie wir sie beispielsweise im Bereich der Immaterialgüterrechte oder rund um die Privatisierung von Staatsunternehmen und -aufgaben wahrnehmen können.

Neue Werte, Lebensstile und Konsummuster entstehen, und in der Folge werden die vertrauten sozio-ökonomischen und institutionellen Gefüge instabil. Mächtige externe Akteure dringen in Wirtschaftsbereiche ein, die lange Zeit von erfolg- und traditionsreichen Unternehmenskonstellationen und Machtgefügen beherrscht wurden.

Kirchen und alten Parteien schwinden die Mitglieder, ganze Wirtschaftsbranchen fallen auseinander, und immer weniger Menschen können durch traditionelle Erwerbsarbeit in ihren angestammten Berufen ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Im Laufe der Zeit ist die Wirkung des Wandels hochselektiv, es gibt einzelne spektakuläre Gewinner, man denke nur an Microsoft, Apple, Amazon, E-Bay oder Google, und jahrhundertealte Traditionsunternehmen mit ehemals Hunderttausenden von Mitarbeitern verschwinden von der Bildfläche, etwa in der Automobilindustrie. Abwrackprämien können hier auf Dauer nichts ausrichten.

Kartelle der Angst

Der Wandel ist unaufhaltsam, aber nicht völlig unkontrollierbar, wenn die zentralen Akteure vorausschauend sind und sich als anpassungsfähig erweisen.

Trifft der Veränderungsdruck aber auf starre, erfolgsverwöhnte Strukturen, die auch noch monokulturell organisiert sind, dann werden die Akteure viel zu spät überrascht, wenn die alten Strukturen bereits dysfunktional geworden sind. Der Wandel erfolgt dann als krisenbehaftete Reaktion auf einen exogenen Schock. Er zwingt die Akteure zu außergewöhnlichem Handeln jenseits bestehender Leitorientierungen, Regeln, Normen und Routinen. Die Finanzkrise lässt grüßen.

In dieser Situation ist die Wirkmächtigkeit der Akteure leider deutlich größer als ihre Wissensmächtigkeit, und das Risiko von Fehlentscheidungen ist gewaltig. Es bilden sich so genannte “Kartelle der Angst”, die sich dem Wandel erfolglos entgegenstemmen oder in Aktionismus verfallen.

Leider gibt es nicht zwangsläufig ein “Happy End”. Die Folgen des Wandels sind meist global und irreversibel. Die neuen Handlungsorientierungen und Regulationsmuster, die sich als Folge des Wandels herausbilden, müssen nicht zwangsläufig adäquat oder effizient sein. Sie können auch einfach die Grundlage für die nächste Krise legen oder die krisenhaften Anpassungsprozesse auf unbestimmte Zeit verlängern.

Im schlimmsten Fall führen sie in eine globale Katastrophe, die dann scheinbar nur mit totalitären Mitteln beherrscht werden kann. Die nicht gänzlich unbegründete Furcht vor einer solchen Zukunft treibt viele weitsichtige Menschen, die bereits in der Informationsgesellschaft leben, dazu, sich nunmehr auch parteipolitisch zu engagieren, um eine solche Dystopie abzuwenden, und an dieser Stelle ist derzeit die Piratenpartei die erste Wahl.

Konservative und reaktionäre Kreise nehmen die Furcht vor der Krise als Anlass, mehr Überwachung und den Einsatz der Bundeswehr im Innern zu fordern.

Um den unvermeidbaren Wandel zu beherrschen, hilft aber kein Bundeswehreinsatz. Was dazu benötigt wird, sind transformationsoffene Strukturen in Politik und Wirtschaft.

Dass die deutsche Gesellschaft durchaus zum Wandel in der Lage ist, das hat die Geschichte der Bundesrepublik mehrfach eindrucksvoll gezeigt, und jede der Parteien hatte da durchaus ihre Sternstunden. Im Gegensatz zu den USA aber ist die deutsche Gesellschaft vergleichsweise ängstlich und behäbig, und neigt dazu, eher die Risiken als die Chancen von Wandel zu thematisieren.

Hier bietet sich ebenfalls eine Gelegenheit für die Piraten, den Menschen die Angst vor Veränderung zu nehmen und neue positive Visionen für die Zukunft zu entwickeln, die über bloße Versprechen zunehmenden materiellen Wohlstands hinausgehen. Dazu bedarf es vor allem, die Menschen aufzuklären und sie an der Gestaltung ihrer Zukunft aktiv zu beteiligen, denn Angst vor der Zukunft entspringt dem Gefühl, dem Lauf der Dinge allein und hilflos gegenüber zu stehen. Aufklärung und Mitbestimmung sind Kernanliegen der Piraten.

Arbeit im Informationszeitalter

Wo neue Arbeit im Informationssektor entsteht, werden Qualifikationen benötigt, die viele Menschen nicht mitbringen, und neue Arbeitsplätze entstehen nur in vergleichsweise geringem Umfang. Die Firma Apple etwa errichtet gerade für 1.5 Milliarden Dollar auf einer Fläche von 50 Fussballfeldern ein gewaltiges Rechenzentrum in der Wüste. Dort werden einhundert Menschen arbeiten.

Aber Automatisierung von Arbeit ist nichts Negatives, denn alle Arbeit, die automatisiert werden kann, sollte automatisiert werden.

Der SPD-Slogan “Arbeit, Arbeit, Arbeit” aus einem früheren Bundestagswahlkampf klang für viele hart arbeitende Informationsarbeiter eher wie eine Drohung. Die meisten Menschen würden auf den ökonomischen Zwang zur Erwerbsarbeit gerne verzichten. Das lässt sich leicht an der hypothetischen Zahl der Menschen ablesen, die etwa bereit wären, eine Monatsrente oder ein Millionenvermögen anzunehmen.

Einige würden sicher weiterhin ihrer Arbeit nachgehen, vor allem, wenn sie einen guten Job haben, der viel Raum für Selbstverwirklichung bietet. Die anderen aber wären auch ohne Erwerbsarbeit sicher nicht beschäftigungslos. Sie würden mehr schreiben, mehr forschen, Sport treiben, anderen Menschen helfen, lehren, mehr spielen, musizieren, mehr lesen, häufiger feiern, malen, öfter Freunde besuchen, programmieren, Haus- und Gartenarbeit leisten, an ihrem Auto schrauben, sich mit ihren Kindern beschäftigen oder welche machen, reisen, sich politisch mehr engagieren oder all die anderen Dinge tun, für die sie bisher zu wenig Zeit haben.

Langweilen müsste sich in einer vollautomatisierten Informationsgesellschaft jedenfalls niemand, und es gäbe natürlich weiterhin unendlich viele wichtige Aufgaben zu erledigen, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Klingt alles utopisch, aber das ist die Art von Gesellschaft, auf die wir uns zubewegen könnten, wenn wir alle gemeinsam wollen.

Die von den traditionellen Parteien gehegte Vorstellung, geregelte Erwerbsarbeit sei notwendige Voraussetzung für ein erfülltes und schöpferisches Leben und soziale Teilhabe, ist längst überholt. Sie ist ein ohnehin heuchlerischer Ausdruck einer Weltanschauung, die die schwere Arbeit von Frauen für die Familie herabwürdigt, ehrenamtliche Sozialarbeit geringschätzt und die oft krankmachende, abhängige Erwerbsarbeit zur höchsten Pflicht und Erfüllung hochstilisiert.

Natürlich kommt dann gleich die Frage, wer denn noch verbleibende schmutzige, gefährliche oder anstrengende Arbeit machen würde, wenn alle Menschen ohne zu arbeiten materiell gut versorgt wären.

Bei der vollumfänglichen Verwirklichung der Utopie gäbe es schlichtweg Maschinen beziehungsweise Roboter für alles, was Menschen nicht tun möchten. Isaac Asimov hat in seinen Romanen über die gesellschaftlichen Probleme spekuliert, die uns dann erwarten. But let’s cross this bridge when we come to it.

Für die vor uns liegende Übergangszeit stellt sich aber in der Tat die Frage, wie wir von unserer jetzigen Wirtschafts- und Gesellschaftsform dahin gelangen, ohne immer mehr Menschen das Gefühl zu geben, überflüssig zu sein.

Das ist die zentrale Frage, auf die die westlichen Industriegesellschaften eine gute Antwort finden müssen.

Die Piratenparteien in derzeit 32 Ländern der Welt dürften wohl einen guten Teil dazu beitragen können.

Nach der grünen Bewegung erleben wir derzeit die Ankunft der zweiten postmaterialistischen Internationale. Oder die der ersten immateriellen Internationale.

Wahlprognose

Den Ausgang der Bundestagswahl zu prognostieren, ist derzeit sehr schwer, insbesondere, was das Abschneiden der Piraten betrifft. Viele rationale Gründe sprechen dafür, dass das Ergebnis zwischen 1.8 und 2.2 Prozent liegen wird. Ein solches Ergebnis wäre bereits ein riesiger Erfolg und eine Verdreifachung der Zahl der Wähler seit der Europawahl, die traditionell eine Wahl ist, bei der man gern "Sonstige" wählt und viele Wähler einfach "Piraten" angekreuzt haben, weil sie das Wort so frech fanden.

Jeder zusätzliche Wähler ist aber nunmehr ein dazugewonner Wähler, der bewusst und aus Überzeugung die Piraten wählt, obwohl die Chance für den Einzug in den Bundestags bei dieser Wahl fast nicht existent ist. Auch ist das Land so groß, dass die Mehrheit der Wähler bisher nicht weiß, wofür die Piraten eigentlich stehen. Irgendwas mit freien Downloads. Und Kinderpornographie.

Drei Prozent wären eine Sensation. Der Einzug in den Bundestag wäre ein politisches Erdbeben, das weit über die Grenzen Deutschlands spürbar wäre, und auch die Piratenpartei vor große Probleme stellen würde, aber so wie die Partei es geschafft hat, ihre Größe innerhalb von wenigen Monaten zu verachtfachen, ohne sich dabei zum Gespött zu machen oder auseinanderzufliegen wie die Pauli-Partei, würde sie auch diese Herausforderung irgendwie bewältigen. Doch gesünder wäre es, erst einmal in Kommunen und Landtagen zu üben, und viele in der Partei konzentrieren sich jetzt bereits auf die Wahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 und in Berlin 2011, wo es erstmals eine gute Chance geben dürfte, in einen Landtag einzuziehen.

Ansonsten wird es bei der Bundestagswahl auf Schwarz-Geld oder eine Neuauflage der großen Koalition hinauslaufen. Beides wird den Piraten zusätzliche Anhänger bescheren, und die nach der Wahl zu erwartende Krisenhysterie mit Massenentlassungen und anschließenden gewaltigen Haushaltslöchern könnte auch dazu führen, dass wir nicht vier Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl warten müssen.

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23 Antworten zu “Braucht die Welt die Piratenpartei oder die Ankunft der zweiten postmateriellen Internationale”

  1. „Politiker lesen zu wenig Science-Fiction Romane. Sie lesen vermutlich überhaupt zu wenig, weil sie so viel reden müssen.“

    Herrlich!

  2. einfachtoll.
    viel muehe, detailverliebt und straight erschreckend zu ende gedacht. hoert sich an wie marx bei der beginnenden industriellen revolution gepaart mit dem science. fiction idealismus von star trek.

    bitte lass es sonntag ein erdbeben geben

  3. Eigentlich ein ideales Motto für die Piratenpartei: Weniger reden, mehr lesen! Weniger Manipulation, mehr Information!

  4. Bitte lass es viele kleine Erdbeben geben, St.Pauli mit 10%, aber lass das große Beben an uns vorüber gehen!

    Schöner Artikel.

  5. Sehr interessant! Das Potential der Piraten erkennen nur die Wenigsten und die Besonderheit in Ihrer Struktur ebenso. Bin gespannt wie sie abschneiden und wie sie sich in de nächsten Jahren entwickeln.

    Zumindest verbreiten sie jetzt schon viel Angst unter den Konkurrenten, wenn ich mir die panischen Reaktionen so anschaue.

    Ich wünsche ihnen in jedem Fall viel Erfolg!

  6. Sorry, aber die Grünen sind bereits Tod, weil sie sich von den Lobbyisten/Materialisten der Solar- und Windkraftindustrie unterwandern lassen haben.

  7. „Nach der grünen Bewegung erleben wir derzeit die Ankunft der zweiten postmaterialistischen Internationale. Oder die der ersten Immateriellen Internationale.“

    Schöne Analyse und endlich mal ein vernünftiger Blick über’n
    Tellerrand. Mir bleibt nur noch folgendes zu sagen/schreiben :

    Danke.

  8. Seit Wochen suche in den trolligen Mailinglisten der Piraten nach Vordenkern. Treffer!
    Wo finde ich frühere Texte von Dir?

  9. Das ist der wertvollste Beitrag über unsere und zu unserer Gesellschaft, den ich seit langem gelesen habe. Danke!

  10. Vielen Dank für diesen sehr guten Beitrag.

    Ich bin gespannt, wann die alten Parteien und Medien wirklich merken werden, dass sich hinter dem Phänomen der Piraten im Kern deutlich mehr verbirgt, als ein paar verrückte Internet-Spinner mit ihren Killerspielen.

    Sollte die Partei es z.B. wirklich schaffen, die Idee der Liquid Democracy in ein funktionierendes und praktikables Instrument der gelebten Demokratie mit direkter Mitsprache der Einzelnen zu verwandeln, würde dieses das heutige System, der leider von Lobbyisten gekaperten Repräsentativen Demokratie, aufbrechen und vom Kopf auf die Füße stellen.

    Hier steckt m.E. ein Potential (auch an Wählerstimmen), das bisher erst von den wenigsten wirklich erkannt wird. Die meisten Menschen sind nicht wirklich politik-verdrossenen, sondern sind es einfach Leid, dass ihre Stimmen für Dinge missbraucht werden, die sie so nicht gewollt haben.

    Das wird alles nicht von heute auf morgen gehen und vermutlich auch auf viel Widerstand der Etablierten stoßen, aber die grobe Richtung ist klar und ein erster Kurs ist gesetzt.

  11. Bin begeistert, Käptn 😉
    So wird das was werden mit unserer nicht mehr ganz so kleinen Kleinpartei. Ich freue mich auf weitere spannende und inhaltsvolle Diskussionen.

    Dazu könnte dieser Text durchaus einen Grundstein legen.
    Danke!

  12. Mir gefällt der Artikel. Wenn doch ich das Wort „Piraten“ schlichtweg durch „Immaterialisten“ ersetzt sähe. Diese Noob-Partei hat gute Grundsätze aber schon der Name selbst ist autodenunzierend. Dazu kommen die peinlichen Lücken im Programm und die unerfahrenen Aktivisten mit Rufschädigenden Aktionen. Und ich befürchte, wenn diese Fehlerchen abgestellt werden, wohlmöglich doch durch eine Art Verhaltenskodex, der nichts anderes sein wird als ein „Regelwerk“, wird sich auch hier die Arbeitsweise dieser politischen Gruppierung der bestehenden politischen Gruppierungen anpassen 😉 Anzeichen dafür findet man ja in der „Ministeriumsvorstellung“ der führenden Köpfe der Partei, die „einfach so“ hervorkam.
    Aber die Philosophie hier dahinter ist echt cool 😀

  13. Piraten die neue Protestpartei

    nach PDS, NPD und der FDP sind die Piraten doch nur eine neue Form des Protests.

    Sie werden so schnell aus der politischen Landschaft verschwinden, wie sie in dieser aufgetaucht sind. Und das einfach nur, weil sie nicht relevant sind.

  14. Sehr schöner Artikel, vielen Dank dafür! Wenn ich dich richtig verstehe bist du also auch Anhänger des (noch utopischen) Gesellschaftsmodells, welches ich immer als „Roboter-Kommunismus“ bezeichne: Die Maschinen/Roboter produzieren die Güter, welche wir Menschen brauchen und die Menschen können sich auf das konzentrieren, was Sie am besten können: Ihren Kopf benutzen. Ich denke darauf wird es hinaus laufen. Wir befinden uns aktuell in der schwierigen Übergangsphase: Unser Gesellschafts-/Wirtschaftssystem geht von Vollbeschäftigung aus, aber der technologische Fortschritt sorgt dafür, dass in der Produktion immer weniger Menschen schufften müssen. Wie reagieren wir also darauf? Meine Meinung: Hochrationalisierte, resp. automatisierte Produktionsbetriebe verstaatlichen und die erzielten Gewinne an die Bevölkerung verteilen.

  15. 1. Dass das Internet die Gesellschaft nachhaltig verändern wird, ist sicher. Aber die Piraten werden nicht die Partei sein, die dazu die richtigen Antworten liefert. Die Piraten stehen eigentlich ziemlich stumm vor dem Phänomen und geben überhaupt keine Antworten. Sie beschränken sich darauf, in der Politik ein bisschen aufzumischen, mehr nicht. Sie bauen lieber einen gemeinsamen Feind auf, anstatt selbst die Regeln zu formulieren, die die Zukunft braucht. Wieso überhaupt Regeln? Weil: Wenn die Gesellschaft nicht Regeln aufstellt, werden es andere tun und diese Regeln werden keine guten sein. Anarchie bedeutet nicht totale Freiheit, sondern, dass der Stärkere sich durchsetzt und bestimmt. Macht statt Moral. Wer die Herausforderungen nicht annimmt, sondern ignoriert, hat etwas nicht verstanden. Die Piraten machen es nicht anders als die anderen Parteien, sie sind weder klar, noch haben sie neue neue Ideen.
    2. Die postmateriellen Bedürfnisse kann genausogut die CDU für sich reklamieren, es sind ureigenste christliche Werte: Bewahrung der Schöpfung, Nächstenliebe etc. Auch die Rechten werben mit „Werten“, die man kaum materialistisch nennen kann und wettern traditionell gegen die Unternehmer, die Linken haben traditionell den Weltfrieden und das Weltbild, jeder bringt sein Können ein und konsumiert nach seinen Bedürfnissen auf dem Programm. Die Randgruppen sind programmmäßig ebenso wenig materialistisch eingestellt: Tierschützer, Esoteriker etc. So zu tun, als hätten die Piraten was Neues entdeckt, finde ich eher lustig. Der „Vordenker“ sollte in den nächsten Jahren viel lesen und es dann noch mal versuchen.

  16. Nach anfänglichen Problemen – aber mehr mit der Sprache des Artikels – konnte ich den Inhalt schließlich nachvollziehen.
    Zur Verbesserung der Lesbarkeit sollten die Sätze vielleicht kürzer gehalten und weniger „Komma-Sätze“ verwendet werden.

    Zum Inhalt selber muss ich Ihnen beipflichten. Ich sehe diesen Wandel zwar in seiner Geschwindigkeit so drastisch auf uns zukommen. Als Zeithorizont würde ich 20-30 Jahre als realistischer Einschätzen für die ersten richtigen Veränderungen.

    Zu Krisen: Die hat es schon immer gegeben und die Finanzkrise wird nicht die letzte gewesen sein. Die nächste wird definitiv stattfinden wegen den gleichen Problemen, da wir aus dieser absolut nichts gelernt haben (oder lernen wollten).

    Krisen sind für Politiker immer gut und besonders vor Wahlen.

    Desweiteren sind Strukturprobleme und -wandel, so wie sie es beschreiben für Politiker schwierig zu managen, da sie von verschiedenen Seiten Druck bekommen.

    Beispielsweise wurden die Zechen in Deutschland viel zu lange aufrechterhalten. Jedoch saßen dahinter viele Wähler und da konnten die Politiker es sich nicht erlauben dran zu gehen.

    Das nächste war Hartz4, was schließlich den Zusammenbruch der SPD verursachte.

    Die hohe Arbeitslosigkeit ist meines Erachtens auch nicht auf einen Mangel an Arbeit, sondern schlicht und ergreifend auf die zu hohe Produktivität zurückzuführen. Durch den hohen intern. Wettbewerb wurden viele Prozessere „verschlankt“/rationalisiert/ausgelagert.
    Blöd nur: Wie sie schon angemerkt haben versucht die Werbung uns immer einen Magel vorzugaukeln, wenn wir nicht konsumieren können. „Du bist krank, wenn du nicht ein Konsument bist“.

    Das Problem ist nur, dass durch die stetigen Rationalisierungen und die damit eingetroffene Arbeitslosigkeit keine Kaufkraft mehr zur Verfügung steht.
    Man beruhigt jene Leute mit einer Almosen „Hartz4“. Das ist zu viel um zu sterben und zu wenig zu leben.
    Die Motivation dieser Menschen ist bereits nach kurzer Zeit auf dem Nullpunkt. Es sind teilweise lernwillige und fähige Menschen dabei, die zu unrecht in eine Ecke gedrängt werden.

    Ich habe allerdings selber noch kein Konzept wie man unsere Arbeitslosigkeits-Problem beseitigen könnte. Die angesprochene totale Automatisierung halte ich für nicht ganz optimal. Ich würde eher eine flexiblere Aufgabenteilung für gut heißen. Weniger Wochenstundenarbeit heißt mehr Arbeit für alle. Dann müsste der Arbeitnehmer unbedingt am Kapital gerecht beteiligt werden. Es kann nicht sein, dass 80 % des Kapitals in 20 % der Hände liegt.

    Aber alles in allem sehe ich diese Lösung des Ungerechtigkeitsproblems, Trennung von dieser Materialisierung und genrelles Umdenken zu einer besseren Gesellschaft erst in vielleicht 100 Jahren.

    Allerdings hätte ich Angst vor einer zentralisierten Regierung. Vielmehr müssten dezentral und gleichberechtigt von allen Bürgern Entscheidungen gefallen werden.

    Es darf nicht in einer Dikatatur enden.

    Es gibt da in der Sience Fiction diverse Vorstellungen hin zu einer gerechten Welt. Zum Beispiel dem Menschen die Emotionen zu nehmen um den Egoismus auszuschalten und alle „gleichzuschalten“.
    Erfahrungen der Vergangenheit haben jedoch leider gezeigt, dass Menschen sehr gerne die Anweisungen von gewissen Führungspersonen brauchen und annehmen.
    Es ist die Frage wie die Gesellschaft mit so einer Art Anarchie zurechtkämen. Man müsste in jedemfall eine Ordnung reinbringen ohne Macht auf sie auszuüben.

    Soviel zu meinen Gedanken zu einer besseren Gesellschaft der Zukunft.

  17. Zum Thema Wandel in zur Informationsgesellschaft kann ich allen Interessieren ans Herz legen sich mit den Kondriatieff-Zyklen auseinander zu setzen!

    z.B.
    http://www.youtube.com/watch?v=zbxmiAstANY

    Erik Händeler hat sich damit auseinander gesetzt und auch ein paar leicht verständliche Bücher dazu geschrieben.

    Kann ich nur jedem empfehlen. Jene Theorie von Kondratieff erklärt, warum unsere Gesellschaft sich in der Zukunft auf andere Dinge konzentrieren wird.

  18. Zuerst einmal: ein sehr lesenswerter Artikel, der ein wesentlich breiteres Forum verdient als ein paar tausend Selbstdenker.

    In meinem Kommentar zu der Veröffentlichung des Links in Facebook schreibe ich: „Jeder Deutsche sollte ihn lesen und sich eine Meinung darüber bilden!!!!“

    Das ist ernst gemeint.

    Ich habe im Vorfeld der Bundestagswahl mit so vielen jungen Menschen über Politik und Parteien gesprochen und bemerkt, dass viele die großen Parteien aus verblendetem Kontinuitätswunsch wählen. Einer bemerkte sogar, „die“ habe er „schon immer gewählt“.

    Ich bin Piratenwähler, und bis vor diesem Artikel dachte ich, meine Stimme letzten Sonntag sei eine Signal-/ bzw. Proteststimme gewesen, weil die Themen der Piraten in der Öffentlichkeit einfach inexistent sind. Nun verstehe ich, dass auch ich zu der erwähnten jungen Generation gehöre, die in immateriellen Werten denkt: für mich zB ist die Arbeit Mittel zur Selbstverwirklichung, dass dabei genug Geld zum Leben abfällt ist mehr als erfreulich, doch spiele ich lieber eine Stunde Gitarre oder mache etwas mit Freunden als dass ich mich dem Konsumterror unterwerfe.

    Der Vergleich der Piraten mit den anfänglichen Grünen ist auch in einer anderen Hinsicht sehr richtig: beide sind bzw. waren ein loser Chaoshaufen mit einer sehr losen gemeinsamen und vielen einzelnen Ideen, Ideologien und Vorstellungen darüber, wie der der Partei zugrunde liegenden Bewegung politisch ein Forum zu verschaffen sei.

    Wo die Demonstrationen der APO Steine warfen und Autos demolierten, schreien Menschen mit Piratenflaggen und -Shirts „YEEAAH!“ bei Merkel-Auftritten (einfach Merkel, Hamburg und Yeeaah googlen für Infos).

    Stichwort „irgendwas mit freien Downloads und Kinderpornos“: ein sehr wahrer Kommentar. Die nächsten vier Jahre werden zeigen, ob die Piraten eine mediale Präsenz als Basis für die Verbreitung ihrer Ideen erreichen können.

    Zur Kritik eines Vorredners, die die „Lücken im Programm“ ansprach: Muss jede Partei den Anspruch erheben, auf alles eine Antwort zu haben? Die Piratenpartei selbst bezeichnet sich ja als Themenpartei. Sicher mindert das ihre Regierungsfähigkeit, aber bevor man an derartiges denkt (und das bei einer derart jungen Partei!), sollte man erst einmal abwarten, ob die Piraten eine eventuelle Parlamentsfähigkeit erreichen können. Den Rest bringt die Zeit.

    Die vollautomatisierte Vision des Autors hingegen macht mir als aufmerksamem „Brave New World“-Leser (von Aldous Huxley) eher ein wenig Angst. Wobei sie nur konsequent den Wandel auf den Punkt bringt, den ich selbst nur zu deutlich sehe und erkenne. Als Ingenieur ist mir allerdings nur zu klar, dass Maschinen niemals ganz den Menschen ersetzen können. Wo Maschine draufsteht, ist nämlich Mensch drin – sprich Fehler.

    Mein Lieblingssatz aus dem Aufsatz:

    „Obwohl die Kriminalitätsrate historische Tiefstände erreicht, werden für ein Mehr an Sicherheit Freiheitsrechte eingeschränkt, deutsche Gefängnisse füllen sich kaum bemerkt mit immer mehr Strafgefangenen, und der Preis für wirtschaftliches Wachstum wird stetig höher.“

    Der ist zwar nicht so lustig wie die Forderung, Politiker sollten diverse Dystopien kennen um sie zu verhindern (es ist es auf jeden Fall wert, darüber nachzudenken!), bringt aber ein (und mein) politisches Herzensanliegen auf den Punkt.

  19. „Die Industrialisierung und Demokratisierung hat zu einem Ausmaß an wirtschaftlichem Wohlstand und Stabilität in den westlichen Gesellschaften geführt, dass materielle Bedürfnisse im Großen und Ganzen als befriedigt angesehen werden müssten.“

    Weiter kann man gar nicht daneben liegen. Unser „Reichtum“ ist eine Illusion, die nun einzustürzen beginnt. Jeder zweite Deutsche besitzt keinerlei Vermögen oder ist sogar verschuldet. Das Arbeitsvolumen sinkt kontinuierlich, die Beschäftigung geht langfristig gegen Null. Außer „postmateriellem“ Geschwafel hat der Artikel nichts anzubieten. Mit einem Blick in die letzte DIW-Vermögensstudie und ein wenig Lektüre von Noam Chomsky oder Albert Einsteins „Why Socialism?“ könnte sich der Autor eventuell wieder erden.

  20. Interessant geschriebener neuartiger (Piraten-)Blickwinkel auf Probleme und Fragen die soo neu nicht sind.
    An dieser Stelle möchte ich gerne eine Fussnote loswerden:
    „Um den unvermeidbaren Wandel zu beherrschen, hilft aber kein Bundeswehreinsatz. Was dazu benötigt wird, sind transformationsoffene Strukturen in Politik und Wirtschaft.“
    Inwiefern der Wandel „unvermeidbar“ ist, ist allerdings zu fragen!
    Die hilfreiche Unterscheidung von Immateriell und Materiell findet man bei Vordenkern wie Marx mit seinem historischen Materialismus so noch nicht. Das Informationszeitalter zwingt sie uns förmlich auf. Diese Unterscheidung sollte man auch beim Prozess der Globalisierung machen. Während er sich im Bereich des Immateriellen durch das weltweite Internet kaum aufhalten läßt und das wohl auch wenig erstrebenswert erscheint, scheint es mir für den Bereich der „materiellen“ Globalisierung durchaus Grenzen zu geben. Je höher die Transportkosten durch ansteigende Kraftstoffpreise, desto mehr könnte sich die Welt auch wieder etwas „re-lokalisieren“ bzw. „re-regionalisieren“. Der Ansatz dezentraler (oder gar autonomer) Energiegewinnung (in abgelgenenen Regionen) könnte hier auch gegenläufig wirken (und wird daher von den Energiekonzernen torpediert wo es nur geht). Und sollte es eine gesellschaftliche Bewegung schaffen, das Primat der Politik zurückzuerlangen, anstatt sich nur ausspielen zu lassen (mehr Solidarität und weniger Konkurrenzdenken), kann die Geschichte auch ganz anders weiter gehen. Ganz im Sinne des globalisierungskritischen Ansatzes für den ich schon vor mehr als einem Jahrzehnt auf die Straße ging: „Another world is possible“ sollten man nicht so schnell alles als „unvermeidlich“ hinnehmen/darstellen.
    Bei der Automatisierung, die ja auch als Teilaspekt des Wandels angeführt wird, ist es wohl genau umgekehrt: Hier passiert im immateriellen Bereich nicht allzuviel (außer sowas wie Internet-Suchmaschinen), während der Prozess im materiellen Bereich weiter voran schreitet mit all seinen negativen Begeleiterscheinungen in den Umbruchmomenten, wie man sie bei den alten Industriealisierungskritikern vor mehr als einem Jahrhundert analytisch vorweg nahm.